1945 – За Родину

Dieser Artikel wurde am 16. Juni 2020 überarbeitet.

Die Parole „За Родину!“ (Za Rodinu!) bedeutet „Für die Heimat!“ und trat meist mit dem Zusatz „за Сталина!“ (za Stalina) auf – „Für Stalin!“. Sie begleitete die sowjetischen Truppen quasi allgegenwärtig bei ihrem Kampf gegen das Deutsche Reich. Russische Soldaten beschrifteten ihre Züge, Lastwägen, Panzerrohre und – wie im Falle dieses Beitrages – auch Fassaden damit. Auf welchen historischen Ursprung der Schlachtruf zurückgeht, beschreibt der Artikel anhand einer Beschriftung in Wien Floridsdorf, die mittlerweile im Zuge einer Fassadenrenovierung verlorengegangen ist.

Die ersten Monate des Krieges befand sich die Rote Armee in der Defensive. Dennoch galt es für sie, ihre Heimat vor der Aggression des Dritten Reiches zu schützen. Ein fürchterlich hoher Blutzoll – etwa 27.000.000 sowjetische Soldaten und Zivilisten verloren bis zum Ende der Kampfhandlungen ihr Leben – war die Folge.

War es den Deutschen am 30. November 1941 fast gelungen, in Moskau einzumarschieren, so war es am Ende die Rote Armee, die im April 1945 den Kampf um Wien für sich entschied und kurz davorstand, dem Nationalsozialismus endgültig den Garaus zu machen.

Doch die Schlacht in der Stadt war blutig. Nach russischen Angaben, die wahrscheinlich zu hoch angesetzt sind, starben 19.000 deutsche und 18.000 sowjetische Soldaten in dieser Schlacht, die von 6. bis 13. April 1945 tobte.
Drei Wochen nach Wien rangen die Alliierten auch Berlin nieder und damit das NS-Regime.


Für die Heimat


Nachdem Hitler am 22. Juni 1941 den Krieg gegen die Sowjetunion, das „Unternehmen Barbarossa“, entfacht hatte, wurden die russische Armee und die Bevölkerung darauf eingestimmt, zu den Waffen zu greifen und Widerstand zu leisten. Schon am nächsten Tag sprach Josef Stalin vom „Großen Vaterländischen Krieg“, der gegen den deutschen Faschismus geführt werden musste. Er wählte diesen Ausdruck aus dem Kalkül heraus, den Rückhalt möglichst vieler Sowjetbürgerinnen und -bürger zu erhalten, indem er damit an die kollektive nationale Leistung der Abwehr Napoleons 1812 erinnerte. Jener Krieg ging als „Vaterländischer Krieg“ in die Geschichtsbücher ein.

1812 sprach Alexander I. angesichts der einfallenden französischen Truppen:

„Krieger, ihr vertheidigt euren Glauben, euer Vaterland und eure Freiheit! Euer Kaiser führt euch, und der Gott der Gerechtigkeit ist gegen den, der den Frieden bricht.“1

1941 druckten die Zeitungen angesichts der einfallenden deutschen Truppen entsprechende Aufrufe, die sich direkt auf den Russlandfeldzug Napoleons beriefen – nur der Glaube wurde durch die Ehre ersetzt:

„Nicht zum ersten Mal hat unser Volk mit dem Angriff eines überheblichen Feindes zu tun. Seinerzeit hat unser Volk auf den Russlandfeldzug Napoleons mit dem Vaterländischen Krieg geantwortet und es kam zu Napoleons Niederlage und er erlebte den Zusammenbruch. Dasselbe wird der überhebliche Hitler erleben, der erneut einen Feldzug gegen Russland erklärt hat. Die Rote Armee und das gesamte Volk werden wieder einen siegreichen Vaterländischen Krieg für die Heimat, für die Ehre und für die Freiheit führen.“2


Der Mythos


Ob die Verwendung der Parole „За Родину“ tatsächlich allumfassend war, wird unterschiedlich beurteilt.
In Berichten von Kriegsteilnehmern werden teils heroische Schlachtenszenen geschildert, die in der wirkmächtigen Parole ihren Anfang fanden. Exemplarisch zitiere ich aus der Erzählung von Alexej Iwanowitsch Kalabin aus dem Jahr 1943 (deutsche Übersetzung):

„In der Nacht vom 1. auf den 2. Oktober erhielten wir den Befehl, die Deutschen in die Zange zu nehmen. Wir mussten den deutschen Brückenkopf einnehmen und ihn halten, bis unsere anderen Streitkräfte eintrafen. Uns standen 14 Boote zur Verfügung, jeweils 7 [Mann?] pro Boot. Nachdem wir etwas vom Ufer entfernt waren, begannen unsere Boote eines nach dem anderen zu sinken: Sie wurden schwer versenkt. Soldaten schrien auf: ‚Hilfe!‘ Der Deutsche ist aufgewacht – feuerte auf uns mit Maschinengewehren, Artillerie, Mörsern.

Alle unsere Männer, alle gemeinsam, begannen mit improvisierten Mitteln das Rudern zu beschleunigen. Bevor wir ein paar Meter vor dem Ziel waren, wurde unser Boot getroffen. Es blieb nichts anderes übrig, als ans Ufer zu schwimmen. Ich hatte ein Telefonkabel hinter meinem Gürtel, um die Verbindung herzustellen. Wir sprangen an Land und gingen zum Angriff über: ‚Hurra! Für die Heimat! Für Stalin!‘“3

Parole sowjetischer Truppen "Sa Rodinu" 1945
Die Parole „За Родину“ (Für die Heimat) prangte bis vor kurzem an einer Fassade in Wien.

Die russische Politikerin und Kinderärztin Elena Bonner, die während des Zweiten Weltkriegs als Krankenschwester in russischen Lazaretten arbeitete, vertrat in einem Interview mit der russischen Plattform snob.ru die gegenteilige Auffassung (deutsche Übersetzung):

„Ich war von Anfang bis Ende des Krieges in der Armee, und dann noch ein wenig danach, bis etwa Ende August 1945. Nicht im Hauptquartier, sondern unter den am meisten verwundeten Soldaten und Unteroffizieren der eigenen Armee. Und ich hörte niemals von ‚Kämpft für das Vaterland! Kämpft für Stalin!‘ Nicht ein einziges Mal! Ich schwöre bei meinen Kindern, Enkelkindern und Urenkelkindern. Nach dem Krieg empfand ich das als einen halben Witz, als sie uns die Vergünstigungen entzogen.
[…]
Auf der anderen Seite gab es einen Laternenpfahl. Und so kletterte der betrunkene Vanka auf die Stange und schrie: ‚Kämpft für das Vaterland! Kämpft für Stalin!‘ Und von unten riefen ihm seine Freunde, ebenfalls betrunken, zu: ‚Kämpft für das Vaterland! Kämpft für Stalin!‘ Und ich weiß nicht, was diese zufällig überlebenden Veteranen überhaupt denken, warum sie nicht sagen: ‚Das haben wir nicht gerufen! Wir riefen ‚Verdammt!‘ Und die Verletzten schrieen ‚Mama!‘, wenn sie wie kleine Kinder erstarrt sind.‘
Sie kämpften nicht für das Vaterland und nicht für Stalin, es gab einfach keinen Ausweg: Vorn sind die Deutschen, und hinten – der SMERŠ.“4

Die russischen Soldaten waren also laut Bonners Beobachtungen keineswegs so heimat- und stalinergeben, wie sie manchmal in der nationalen russischen Erinnerung dargestellt werden. Vielmehr verwendeten sie diesen Schlachtruf, weil sie keine andere Wahl hatten. Der SMERŠ war der Militärgeheimdienst der Sowjetunion, der sich nicht nur mit Spionageabwehr befasste, sondern auch die eigenen Soldaten unter die Lupe nahm.

Letztendlich lässt sich wohl sagen, dass es – ebenso wie auf deutscher Seite – fanatische Soldaten gab, die sich tatsächlich mit derlei Parolen in die Schlacht stürzten, während andere auf Parolen und Schlachtrufe verzichteten.

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Fußnoten:


1 o.V., Darstellung der denkwürdigsten europäischen Weltereignisse vom Jahr 1789 bis auf unsere gegenwärtigen Tage, Bd. 6 (Memmingen 1824), S. 125, online unter:
https://books.google.at/books?id=OfJlAAAAcAAJ&hl=de&pg=PA125#v=onepage&q&f=false (16. Juni 2020)

2 Diese Meldung erschien am 23. Juni 1941, dem Tag nach der Kriegserklärung Deutschlands an die Sowjetunion in allen großen sowjetischen Zeitungen, zitiert nach: Philipp Bürger, Geschichte im Dienst für das Vaterland. Traditionen und Ziele der russländischen Geschichtspolitik seit 2000 (Schnittstellen. Studien zum östlichen und südöstlichen Europa 11, Göttingen 2018), S. 81, online unter:
https://books.google.at/books?id=OOxfDwAAQBAJ&lpg=PP1&hl=de&pg=PA81#v=onepage&q&f=false (16. Juni 2020)

3 Герои страны, Калабин Алексей Иванович (Helden des Landes, Alexej Iwanowitsch Kalabin), online unter (russisch):
http://warheroes.ru/hero/hero.asp?Hero_id=2557 (16. Juni 2020)

4 Пермское краевое отделение общества «Мемориал», Елена Боннэр о войне и о Сталине (Permer Regionalzweig der Gesellschaft „Memorial“, Elena Bonner über den Krieg und Stalin), online unter (russisch):
http://pmem.ru/index.php?id=1578 (16. Juni 2020)


Interne Links:

Mehr zu den Jahren von 1939 bis Kriegsende:
http://www.worteimdunkel.at/?page_id=1343

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