1945 – „Zivil“ und die Chronologie der Fassadenbeschriftungen

Immer seltener finde ich auf meinen Streifzügen durch die Stadt Beschriftungen an Fassaden, die aus dem im Blog untersuchten Zeitraum stammen. Im Beitrag „Die sprechenden Fassaden“ habe ich gezeigt, wie die Beschriftungen des Luftschutzes aussahen und die Abkürzungen LSK, LSR, NA und MD erklärt. Ebenfalls hochspannend sind die von Zeit zu Zeit bei Gebäuderenovierungen auftauchenden Markierungen der Roten Armee, die in kyrillischer Schrift „Kvartal proveren“ verkünden – die Botschaft an nachrückende Einheiten, dass der Häuserblock bereits überprüft wurde und frei von deutschem Militär oder Sprengfallen ist. Die heute vorgestellte Fassadenbeschriftung ist extrem selten und stammt wie die Kvartal-proveren-Hinweise aus der unmittelbaren Kriegsendephase.

Ebenso wie die russische Schlachtparole „Za rodinu“ (Für die Heimat) in der Prager Straße, die mittlerweile unter frischer Farbe verschwunden ist, stellt die Beschriftung dieses Beitrags eine Botschaft dar, die kaum noch im Stadtbild entdeckt werden kann. Es handelt sich um den Hinweis „ZIVIL“. Dieser wurde höchstwahrscheinlich von Hausbewohnern an Fassaden gemalt, um den Einheiten der Roten Armee, die im Häuserkampf während der Schlacht um Wien Gebäude um Gebäude zu kontrollieren hatten, mitzuteilen, dass hier nur Zivilpersonen lebten und mit keinem militärischen Widerstand zu rechnen war.


Die Chronologie der Fassadenbeschriftungen


In den Jahren, in denen mit Fliegerangriffen gerechnet werden musste – in Berlin ab 1940, in Österreich de facto erst ab 1943 – wurden die Luftschutzhinweise LSK, LSR, LS, MD und NA an die Hauswände gemalt. Kurz bevor die Rote Armee am 6. April 1945 damit begann, die Stadt zu erobern und während der darauffolgenden Woche kennzeichneten Hausbewohner ihre Fassaden mit dem Hinweis „Zivil“, in der Hoffnung, möglicherweise unheilbringende Begegnungen mit schwer bewaffneten Rotarmisten zu vermeiden. Doch selbst wenn der Hinweis den Tatsachen entsprach, scheint es kaum vorstellbar, dass sich die Rote Armee auf diese Informationen verließ. Wahrscheinlich wurde das Gebäude dennoch von Soldaten untersucht. Da die Überlieferungen zu dieser Beschriftung nur äußerst spärlich sind, besteht außerdem die Möglichkeit, dass die Rote Armee selbst nach Überprüfung des Hauses den Zivil-Vermerk hinterließ, um ähnlich dem Kvartal-proveren-Hinweis den nachrückenden Einheiten die Ungefährlichkeit des jeweiligen Gebäudes mitzuteilen.

Während der Schlacht in den Straßen folgten die Kvartal-proveren-Markierungen im Fortschritt der eroberten Straßenzüge. Vermutlich erst gegen Ende der Kampfhandlungen am 12. oder 13. April wurde die Za-Rodinu-Beschriftung in Floridsdorf aufgetragen.

Ehemalige Zivil-Markierung in der Wiener Alliogasse. Mittlerweile verschwand sie im Zuge einer Fassadenrenovierung.
Ehemalige Zivil-Markierung in der Wiener Alliogasse. Mittlerweile verschwand sie im Zuge einer Fassadenrenovierung.
Auch um die Ecke am Kriemhildplatz war das Gebäude gekennzeichnet.
Das gleiche wie am Bild oberhalb gilt für diese Kennzeichnung am Kriemhildplatz.
Eine weitere Markierung, die die Truppen der Roten Armee im Häuserkampf darauf hinweisen sollte, dass sich hier nur Zivilisten aufhielten.
Eine weitere Markierung, die die Truppen der Roten Armee im Häuserkampf darauf hinweisen sollte, dass sich hier nur Zivilisten aufhielten.

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Literatur:


Marcello La Speranza, Robert Bouchal, Wien – Die letzten Spuren des Krieges. Relikte & Entdeckungen (Wien/Graz/Klagenfurt 2012) S. 153.


Interne Links:

Mehr zu den Jahren von 1939 bis Kriegsende:
1939 bis Kriegsende

Die sprechenden Fassaden:
1943 bis 1945 – Die sprechenden Fassaden

Die letzten Tage des NS-Regimes in Wien:
1945 – Die letzten Tage des NS-Regimes in Wien

Ostfront am Donaukanal – die letzten Tage der Adlergasse:
1945 bis 1954 – Ostfront am Donaukanal – die letzten Tage der Adlergasse

Zo rodinu:
1945 – За Родину

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